
Etwa 30 Jugendliche zwischen 16 und 20 platzieren sich auf die Frage „Habe ich Angst vor der Zukunft?“ auf einer Skala zwischen 1-10, wobei 1 „gar nicht“ und 10 „total“ bedeutet, alle oberhalb von 8.
Eine Szene, die sich so auf einem FSJ-Seminar dieses Jahr im Februar ereignet hat.
… und für sich spricht. Unsere Bildungsreferent*innen Berichten aus einem spannenden FSJ-Jahr und teilen ihre persönlichen Einblicke zum Thema Sicherheit.
Bildungsarbeit als Spannungsfeld
In unserem Bildungskonzept für unsere Seminararbeit im FSJ spielt das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Unsicherheit eine zentrale Rolle. Bildungsarbeit schafft zunächst Räume der Sicherheit: In den Seminargruppen erleben die Freiwilligen einen geschützten Rahmen, in dem sie sich ausprobieren, austauschen und persönliche Themen einbringen können. Vertrauen, Verlässlichkeit und Zugehörigkeit bilden dabei das Fundament für eine gelingende Bildungsarbeit. Doch Bildung im FSJ bedeutet nicht nur „sicherer Hafen“ – im Gegenteil: Ziel ist es auch, junge Menschen gezielt aus ihrer Komfortzone herauszuführen. Übungen, Diskussionen und Reflexionsmethoden fordern sie heraus, neue Perspektiven einzunehmen, ungewohnte Situationen auszuhalten und Unsicherheiten zu erleben. Besonders deutlich wird dieser Ansatz im erlebnispädagogischen Seminar: In der Natur, fern des Alltags, begegnen den Freiwilligen Herausforderungen, die sie körperlich und emotional fordern – immer begleitet von einer Gruppenerfahrung und pädagogischer Reflexion. Hier wird Unsicherheit als Motor für persönliches Wachstum eingesetzt. Im folgenden berichten zwei unserer Bildungsreferentinnen über ihre Erfahrungen zum Thema Sicherheit in unseren FSJ-Referaten.

Melanie Reitinger-Hönig: Lebensgefühl Jugendlicher heute: Was zeigt sich auf unseren Seminaren?
Seit 10 Jahren begleite ich Jugendliche und junge Erwachsene in ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr. Jugendliche Lebenswelten und Anforderungen haben sich in dieser Zeit stark verändert. Auf den Seminaren sehe ich eine klare Tendenz im Verhalten von Jugendlichen: weniger risikoreiches Verhalten, mehr Konformität und zunehmendes Sicherheitsbedürfnis, bzw. Bedürfnis nach Unsicherheitsvermeidung.

Klärende Gespräche mit Freiwilligen auf FSJ-Seminaren habe ich kaum noch wegen den klassischen Jugendthemen (ausuferndes Partyverhalten, nächtliche Ruhestörung, Gelände verlassen, Alkoholmissbrauch). Krisengespräche führe ich heute in erster Linie, weil der Prozess der Berufsorientierung und ein hoher Perfektionsanspruch in der Lebensplanung auf einige der Freiwilligen eine große Unsicherheit erzeugt.
Der 17. Kinder- und Jugendbericht aus 2024 stellt fest: Jugendliche nehmen die aktuellen komplexen Herausforderungen intensiv wahr. Und: die Krisenerfahrungen aus Pandemie-Lockdown, Kriegen und Klimawandel üben enormen Druck auf Jugendliche aus. Das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit von Politik und Gesellschaft ist gesunken – das bestätigt unser Beispiel vom Einstieg. Paradoxerweise gab es noch nie so viele junge Menschen, die zufrieden waren mit ihrer Situation.
Viele unserer Freiwilligen versuchen, mithilfe von Plänen Unbekanntes oder Unsicheres vorhersehbar und kontrollierbar zu machen. Ein wichtiges Kriterium für den beruflichen Kontext besteht in einer deutlich geringeren bzw. kaum vorhandenen Fehlerkultur sowie diversen Strategien, keine Fehler zu begehen. Unbekannte (ungeregelte) Situationen erzeugen Unbehagen bis hin zu Angst.

Außerdem kommt es häufig vor, dass Freiwillige Schwierigkeiten haben, auf Seminar anzureisen oder zu übernachten. Wir begegnen diesem erhöhten Sicherheitsbedürfnis damit, Belastungsfaktoren zu reduzieren und individuelle Unterstützungsangebote zu machen (z.B. mehr telefonischer Einzelberatung, individuellen Lösungen bei Freiwilligen mit Angststörungen, Häuser bevorzugen mit kleineren Zimmern oder auch damit, dass wir die Seminarsituation bereits im Bewerbungsgespräch gut erklären).
Mir macht das Sorgen. Natürlich ist es für die Leitungsteams sehr angenehm, wenn die Freiwilligen um 22 Uhr im Bett sind und wir die Nächte nicht mit regelverletzenden Jugendlichen oder Ermahnungen verbringen müssen! Aber zentrale Entwicklungsaufgaben des Jugendalters scheinen sich nicht oder nicht mehr hier abzuspielen!
Julia Schwarz: Was bietet die Zukunft für die Freiwilligendienste?

Manchmal blicke ich in die Gesichter der Freiwilligen – voller Erwartungen – und merke, wie schwer es ist, über „Zukunft“ zu sprechen, wenn die eigene, in Zeiten der Multikrise manchmal schwer planbar ist.
Wie soll ich jungen Menschen Orientierung geben, wenn auch das politische Fundament, auf dem mein Beruf steht, manchmal wankt: Die politischen Debatten über Kürzungen, der Gesetzesentwurf zum Wehrdienst und dadurch der ständige Druck, sich und den Wert dieser Arbeit rechtfertigen zu müssen – das nagt. An der Energie. An der Zuversicht. Und manchmal auch am Selbstbild als Bildungsbegleiterin.
Und trotzdem – oder gerade deshalb – liegt darin auch eine Chance. Vielleicht ist es genau diese Offenheit, die zählt. Dass ich sagen kann: „Ich kenne diese Unsicherheit. Ich spüre sie auch. Und doch bin ich hier.“ Vielleicht wird das Gespräch über Zukunft dadurch ehrlicher. Authentischer.
Ich kann den Freiwilligen kein fertiges Modell liefern, aber ich kann ihnen vorleben, wie man mit Unsicherheit umgehen kann – nicht perfekt, aber echt. Und vielleicht ist das heute mehr Sicherheit, als ein Plan es je sein könnte.
Im Juli standen wieder die Abschlussseminare des Jahrgangs 2024/25 an. Eine Methode, die ich auf dem allerletzten Seminar gerne den Freiwilligen mitbringe: „Kaffeetrinken in 10 Jahren“. Wir decken dafür einen Tisch, stellen Tassen hin und ein bisschen Kuchen. Jede*r soll sich vorstellen, wie es wäre, wenn wir uns in zehn Jahren wieder treffen. Was machst du? Wo lebst du? Wie sieht dein Alltag aus? Anfangs ist da viel Lachen, Zögern, auch Skepsis – doch dann entstehen ganz lebendige Bilder. Und während die Freiwilligen erzählen, merke ich, wie inspirierend diese kleine Übung sein kann. Nicht, weil alles konkret wird. Sondern weil sie zeigt, dass es trotz aller Sorgen und Bedenken vielen Ideen von „Morgen“ gibt – und viele mögliche Wege dorthin.
Vielleicht ist das die eigentliche Stärke der Bildungsarbeit in den Freiwilligendiensten: Dass wir lernen, Sicherheit nicht durch Antworten zu geben, sondern durch echtes Zuhören, durch gemeinsame Bilder – und durch das Vertrauen, dass Zukunft nicht planbar sein muss, um möglich zu sein.
