Jenseits der Schlagzeilen: Ein Ruf nach struktureller Gerechtigkeit

Jenseits der Schlagzeilen: Ein Ruf nach struktureller Gerechtigkeit

Joana Kulgemeyer ist Referentin für Jugendpolitik, Mädchen- und Frauenpolitik und Diversität in der BDKJ-Bundesstelle. Sie hat Sprach- und Politikwissenschaften studiert und sich in ihrer diskursanalytischen Forschung mit dem Zusammenspiel von Sprache und Macht auseinandergesetzt. In der letzten Woche vor der Bundestagswahl zeigt sie, welche Fragen im Wahlkampf untergehen, obwohl sie für junge Menschen von zentraler Bedeutung sind. (Foto: Christian Schnaubelt)


Wahlkämpfe setzen oft auf einfache Botschaften, verkürzte Problemstellungen und Schlagzeilen, die kurzfristig Aufmerksamkeit erzeugen, doch viele grundlegende Fragen bleiben unbeachtet. Dabei geht es gerade jungen Menschen oft nicht nur um einzelne Themen, sondern um das große Ganze: um die Mechanismen, die unsere Gesellschaft prägen, um Normen, die oft unhinterfragt bleiben, um Machtverhältnisse, die bestimmte Gruppen privilegieren, während andere systematisch benachteiligt werden. Es geht darum, die Vision einer Gesellschaft wieder greifbar zu machen und warum es sich dafür zu streiten lohnt – in was für einer Welt wollen wir eigentlich leben? Und: warum fragt das niemand?

Rechte, Ressourcen, Repräsentanz – was im Wahlkampf fehlt
Junge Menschen fordern eine Politik, die soziale Gerechtigkeit nicht als Nebensache begreift, sondern als Fundament jeder Entscheidung. Sie fordern intersektionale Perspektiven, die die Mechanismen hinter Ungleichheiten sichtbar machen und Politikansätze, die Diskriminierung nicht nur punktuell, sondern nachhaltig und strukturell abbauen. Es geht um ein Bildungssystem, das echte Chancengerechtigkeit schafft. Eine Klimapolitik, die globale Ungleichheiten abbaut. Eine Sozialpolitik, die Care-Arbeit fair verteilt und ökonomische Abhängigkeiten verringert.

Doch strukturelle Gerechtigkeit erfordert mehr als einzelne politische Maßnahmen. Sie verlangt ein Umdenken in der Frage, wer überhaupt über Gegenwarts- und Zukunftsthemen entscheidet. Warum gelten bestimmte Maßstäbe als selbstverständlich? Wessen Erfahrungen fließen in die politische Debatte ein und wer bleibt unsichtbar? Der Wahlkampf suggeriert oft, dass alle gleichermaßen von politischen Maßnahmen profitieren – doch tatsächlich kommen sie nicht selten zuerst denjenigen zugute, die bereits über Rechte und Ressourcen verfügen. Und wenn materielle Ressourcen verteilt sind, bleibt die Frage nach Entscheidungsmacht und Deutungshoheit: Wer bestimmt, wie über Themen gesprochen wird? Wer setzt die Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Debatten?

Digitale Räume als neue Machtarenen
Junge Menschen sind es, die früh erkannt haben, dass digitale Räume zentrale Schauplätze gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sind, dass Debatten nicht nur auf Marktplätzen und in Talkshows stattfinden, sondern sich zunehmend ins Digitale verlagern. Hier wird gestritten, mobilisiert, Solidarität organisiert. Doch diese virtuellen Arenen sind nicht nur Orte der Partizipation – es entstehen auch neue Formen der Verdrängung aus Diskursräumen und demokratischer Teilhabe.
Die Mechanismen digitaler Kommunikation sind nicht neutral. Sprache, Bilder und Codes formen Wahrnehmungen und Identitäten. Rassistische, sexistische, ableistische Diskriminierung aus dem analogen Raum setzen sich im Digitalen fort. Algorithmen können bestehende Ungleichheiten nicht nur reproduzieren, sondern verstärken, wenn sie nicht diskriminierungskritisch gestaltetet werden. Daher ist Digitalpolitik immer auch Gesellschaftspolitik. Sie bedingt, ob digitale Räume Orte der Emanzipation oder des Ausschlusses sind, ob sie soziale Gerechtigkeit fördern oder Ungleichheiten vertiefen, ob sie Demokratie stärken oder gefährden.

Doch im Wahlkampf bleiben diese Zusammenhänge ein Randthema, obwohl sie längst über gesellschaftliche Teilhabe entscheiden. Die vergangenen Wochen haben einmal mehr gezeigt, wie gezielt Menschen aus digitalen Diskursräumen verdrängt werden, wie Desinformationen politische Debatten manipulieren und Algorithmen die gesellschaftliche Spaltung vertiefen. Wer ernsthaft über Demokratie spricht, muss auch über digitale Machtverhältnisse sprechen.

Gerechte Politik braucht einen systemischen Blick
Junge Menschen erwarten von politischen Akteur*innen Reflexionsvermögen, Weitsicht und echte Mitsprache bei der Gestaltung gesellschaftlicher Spielregeln. Dazu gehört, sie als Expert*innen ihrer Lebenswelt ernst zu nehmen und Politik kinder- und jugendgerecht auszurichten. Es geht darum, diskriminierende Mechanismen offenzulegen, Privilegien zu hinterfragen und aktive Verbündete zu sein. Manche nennen es feministisch, andere inklusiv oder teilhabegerecht – im Kern geht es um einen fairen Zugang zu Rechten, Ressourcen und Repräsentanz, um den Abbau struktureller Hürden gesellschaftlicher Teilhabe. Es geht nicht um Oberflächlichkeiten, um das richtige Wort im richtigen Augenblick. Es geht um das, was dahinter liegt. Es geht um eine Politik, die das unverhandelbare Recht auf gleichberechtigte Teilhabe zum Maßstab nimmt – für alle, digital wie analog.


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