
Dr. Michaela Quast-Neulinger ist Theologin an der Universität Innsbruck. Sie forscht zum Thema Vulnerabilität – also zur Frage, wie sich Verletzlichkeit und gegenseitiges aufeinander Angewiesensein auf unser Leben auswirken. In Ihrem BAItrag ist ein gegenwartskritischer theologischer Versuch, die Rolle von Verletzlichkeit in einen immer drastischer werdenden Sicherheitspolitischen Diskurs einzuordnen. (Bild: Universität Insbruck)
Nicht nur Äpfel haben Würmer, auch das menschliche Herz ist mitunter von einem Wurm befallen. Es ist der Wurm des Todes und seiner kleinen Geschwister – der Imperfektion, des Schmerzes, der Verwiesenheit unseres Lebens, der Kontingenz unseres Seins. Der Mensch ist vergänglich und er weiß darum. Dieses Wissen ist seine Tragik, aber auch seine Größe, stellte der Kulturanthropologe Ernest Becker in den 1970ern fest. Das Wissen um die eigene Vergänglichkeit kann den Menschen zu höchsten kulturellen Leistungen führen oder in die Abgründe grausamster Gewalt bis hin zur Vernichtung stürzen. Die auf Becker aufbauende „Terror Management Theorie“ von Solomon/Greenberg/Pysczczynski geht davon aus, dass es für das Selbstverständnis des Menschen und sein Zusammenleben mit Anderen von entscheidender Bedeutung ist, wie er mit dem Wissen um den Tod und seine Geschwister umgeht. Wovon aber hängt es ab, ob dieser Wurm im Herzen zum Schmetterling wird oder ein Pestwurm bleibt und das Herz zersetzt?

Diese Frage scheint in unseren Tagen wieder von ungeahnter Dringlichkeit. Woher stammen diese Wellen ungeahnter Gewalt, die sogar im Namen „Gottes“ versucht wird zu rechtfertigen? Präsidenten, die vor nichts zurückschrecken, um ihre absolute Macht zu demonstrieren und dabei auch „Gottes Willen“ oder die „Verteidigung des Christlichen“ als Grund anführen? Glaube kann einen wesentlichen Beitrag leisten zum sinnstiftenden, ermächtigenden Umgang mit der je gegebenen Verwundbarkeit des Lebens und den erfahrenen Verwundungen. Umso unerträglicher ist es, wenn dieser Glaube gebraucht wird, um Friede, Freiheit und Gerechtigkeit zu vernichten „im Namen Gottes“. Worin kann das Herz noch Nahrung finden, wenn die Mächtigen dieser Welt selbst auf „Gott“ zugreifen und, wie der Theologe Massimo Faggioli ausführt, katholische Kirche und Theologie in den USA selbst im Zentrum des Erstarkens autoritärer und totalitärer Kräfte stehen? Mit aller Härte werden werden Schrift, Tradition und Lehramt den eigenen Machtinteressen gefügig gemacht, ja selbst vor dem Papstamt schreckt man nicht zurück. Es ist zum Verzweifeln – und die Versuchung groß, das eigene Herz mit Abgrenzung und Härte reagieren zu lassen.
Gegen Herzwürmer hilft kein Insektenvertilger, kein Stacheldraht, keine Gegengewalt. Aber wie gehen wir mit ihnen um? Arno Gruen warnt: Wenn wir keinen guten Umgang mit der Verwundbarkeit unseres Lebens und den unausweichlichen Verwundungen finden, so wird unsere Empathiefähigkeit und damit die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens dauerhaft gestört oder gar zerstört. Es handelt sich um „die Fähigkeit, an den Gefühlen, Intentionen, Ideen und manchmal auch Bewegungen eines anderen Menschen teilzunehmen, sie mitzuerleben und nachzuempfinden“ Ohne sie streben Menschen nach totaler Macht, unterwerfen und vernichten den Anderen um die eigene Identität zu sichern. „Unsere Gefühle der Unzulänglichkeit, der Hilflosigkeit, des Leidens, der Verzweiflung und der Angst werden als Schwächen eingestuft, sie müssen geradezu verneint und als ‚weiblich‘ abgetan werden.“

Die Verächtlichung jener, die als „Schwächlinge“, „Parasisten“, „Schmarotzer“ ausgemacht werden – kommt das nicht bekannt vor? Und wie gut fühlt man sich, dass man nicht dazugehört, sondern zu den „Starken“, „Guten“, „Richtigen“ gehört? Totale Macht und totale Unterwerfung, sie sind zwei Seiten der einen Medaille. „Das Gefühl der Omnipotenz und das Verschmelzen mit einer Ideologie, die größer als sie selbst ist, lässt sie die Schwäche des eigenen Opferseins vergessen“, so Gruen.
Christlich geht anders oder: Die Übung des Schmetterlings
Christ*innen sind keine Insektenvertilger. Wir sind Transformierer und suchen den Weg des Schmetterlings. D.h. wo steht das Leben in Fülle allen offen – und wo dürfen Zweifeln, Fragen, Unsicherheiten auf ihre Erfüllung hoffen? Im Kern des Glaubens steht das Bekenntnis zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, von dem wir glauben, dass er in Jesus von Nazareth auf intensivste Art und Weise mit dem Menschen in Beziehung getreten ist, mitten im Nirgendwo der judäischen Berge in einem Stall geboren wurde. Gott erkennt den Menschen – erkennen wir an- und ineinander das „Imago Dei“, das Abbild Gottes?
An- und ineinander das Abbild Gottes zu erkennen setzt Empathiefähigkeit voraus, Fantasie, Imagination. Ich muss über mich hinaustreten können, mich in Anderes und Andere hineinversetzen, mich öffnen können für den Einbruch eines Anderen, von dem ich hoffnungsvoll, vertrauend erwarte, dass wir miteinander mehr sind als alleine. Die Imaginationskraft ist die zentrale Kraft von Prophet*innen. Ihre Gottesbeziehung ist zugleich Ausdruck tiefster Menschlichkeit. Der geschundene, verwundete, verzweifelte Jeremia gibt nicht auf Zeugnis abzulegen für das Leben und hofft wider alle Hoffnung. Seine Imaginationskraft eröffnet eine Hoffnung für die Kinder und Kindeskinder.
In Jesus begegnet uns der verwundete Heiler, der das Kreuz nicht auslöscht, sondern aufhebt. Die Wunden bleiben sichtbar, aber das Böse hat nicht das letzte Wort. Niemals.
Raupen füttern für morgen
Vielleicht ist unsere Zeit die Zeit der Raupen. Die Zeit, in denen wir unsere Kinder mit Liebe, Geborgenheit und Fantasie „füttern“, damit sie die Kraft des Prophetischen in sich entfalten können. Die Vergänglichkeit, der Schmerz, die Kontingenz des Lebens sind unvermeidlich. Sie auszulöschen führt in die totalitäre Gewalt. Mit ihnen zu leben und sie hoffnungsvoll zu verwandeln, kann den Weg der Schmetterlinge bereiten. Er ist mühsam und schwierig. Es ist der Weg Jesu und seiner Gefährt*innen. Für ein Leben für alle.
Du interessierst dich für das Thema Vulnerabilität? Die österreichische Pastoraltagung befasst sich 2026 mit dem Thema!
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